Leseprobe Kapitel 1

Stunde Null

Teil I

Morgengrauen

 

„Die Nacht ist der einzige Ort, an dem ich mich von der Finsternis erhole.“

– Hans-Christoph Neuert und Elmar Kupke

 

Trübes Sonnenlicht fiel durch das weit geöffnete Fenster, während der Klang einer Spieluhr den Raum mit lieblichen Melodien füllte. Der Herbst war unlängst hereingebrochen und vertrieb die milden Tage des Spätsommers. Eine kindliche Freude leuchtete in Thoms Augen und er trat an das hölzerne Fensterbrett. Es reichte ihm bis unter die kleine Nase, wodurch er kaum hinausblicken konnte. Bei dem Versuch, emporzuklettern, rutschten seine Finger immer wieder ab und so schob er nach einigen Fehlversuchen eine farbige Kiste als Tritthilfe herbei. Das dünne Plastik knirschte unter seinem Gewicht, bevor er sich der Länge nach auf das Fensterbrett robbte und hinab auf die geschäftigen Straßen blickte.

Dort unten schien eine völlig andere Welt zu existieren. Sie war hektisch, laut und schmutzig. Thom liebte es, wie ein Vogel auf die Köpfe der anderen hinabzublicken. An diesem Tag waren zu seiner Verwunderung nur wenige Menschen unterwegs. Ob es an dem leichten Nieselregen oder der Tageszeit liegen mochte, konnte sein junger Geist noch nicht begreifen. Ein wenig enttäuscht reckte er seine Glieder, in der Hoffnung, vielleicht noch etwas Interessantes erspähen zu können, und lehnte sich weit über das Sims hinweg. Kaum verließ sein Antlitz den Fensterrahmen, wehte ihm ein dezenter Geruch lieblicher Speisen entgegen. Irgendwo in den darunter liegenden Geschossen hatte jemand gerade einen duftenden Kuchen zum Auskühlen auf das Fensterbrett gestellt. Schnaufend inhalierte Thom die süßliche Note, rümpfte aber nur wenige Augenblicke später die Nase. Ein beißender Gestank hatte sich in den Duft gemischt und diesen wie ein überreifes Stück Obst verfaulen lassen. Thom wandte verwundert seinen Kopf und spähte über die ehemals begrünten Seitenstreifen des Straßenrandes hinaus. Dort zog sich eine zähfließende Blechlawine entlang, deren Abgase stetig zu ihm heraufstiegen. Verärgert runzelte Thom die Stirn.

»Blödmänner!«, schimpfte er verkniffen und hielt sich sogleich erschrocken den Mund zu. Sein Vater hatte ihm verboten, solche Worte zu benutzen. Wie ertappt spähte er über seine Schulter, auch wenn er ganz allein in diesem Raum war. Er wandte sein Augenmerk zurück zum Fenster, sah über die Dachschindeln hinweg und verweilte letztendlich beim Anblick des zähflüssigen Verkehrs. Die Fahrbahn staute sich nur in die Richtung, welche aus der Stadt hinausführte. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass es den Menschen hier nicht mehr so gut gehe und sie deshalb immer öfter für ihre Arbeit hinausfahren mussten.

»Aus diesem Grund ziehen die Leute fort von dieser Stadt«, hatte er gesagt und dabei eine betrübte Miene gezogen. Thom hatte all das noch nicht richtig verstanden, doch nahm er an, dass es wohl etwas Schlechtes bedeutete. Noch während er sich aus dem Fenster lehnte, hörte er das quietschende Geräusch einer Klinke, und die Tür zu seinem Zimmer schwang auf.

»Thom? Was machst du da oben? Geh sofort runter vom Fensterbrett!«, hörte er augenblicklich die alarmierte Stimme seines Vaters. Erschrocken wirbelte er herum und begann haltlos auf dem Brett zu rutschen. Der Fensterrahmen entglitt seinen kleinen Händen und er spürte, wie er zu straucheln begann. Ein greller Schrei entfuhr seiner Kehle, bevor eine kräftige Hand ihn am Arm packte. Mit einem Ruck wurde er von dem Fenstersims gehoben und wieder auf den Teppich seines Zimmers gestellt.

»Bist du wahnsinnig geworden?«, keuchte sein Vater und wischte sich über die glänzende Stirn. »Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du nicht auf das Fensterbrett darfst. Warum tust du nicht, was ich dir sage?« Die Haare seines Schnurrbartes zitterten im Takt der Lippenbewegungen. Betreten blickte Thom zu Boden und vergrub seine Finger in den Taschen seiner Hose.

»Tut mir leid, Papa«, brummte er einsichtig. »Mir ist langweilig, ich möchte nach draußen.« Mit einem gedehnten Seufzer nahm sein Vater ihn in den Arm und drückte ihn an sich.

»Du hast mich zu Tode erschreckt, mach das nicht wieder!«, mahnte er und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich verspreche dir, wir gehen heute noch spazieren, dann kannst du die Umgebung so viel bestaunen, wie du willst, ja?« Thom nickte eifrig.

»Gut.« Sein Vater und tätschelte ihm über die schwarzen Locken. »Aber du musst noch ein wenig warten. Gleich kommt wichtiger Besuch für deinen Vater. In der Zwischenzeit bleibst du in deinem Zimmer. Versprich es mir.« Ein beleidigter Ausdruck malte sich auf Thoms Gesicht ab, trotzdem nickte er widerstrebend.

»Ist das ein Freund?«, fragte er neugierig und blickte empor.

»Nein, leider nicht.« Die Mimik seines Vaters verdüsterte sich schlagartig. »Das ist alles rein geschäftlich. Es wird eventuell ein wenig lauter, aber du darfst nicht aus deinem Zimmer, hörst du?« Thom nickte irritiert, obwohl er nicht wirklich verstand, wovon sein Vater sprach. »Du bist ein guter Junge«, betonte er versöhnlich und drückte ihn noch einmal an seine Brust. »Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut.« Mit diesen Worten erhob sich sein Vater aus der gebückten Haltung, zwinkerte Thom zu und verließ den Raum. Nur einen Augenblick später herrschte Stille im Zimmer.

Ohne die Anwesenheit seines Vaters wirkte der Raum nun um ein Vielfaches weniger behaglich. Thom befolgte seinen Wunsch, auch wenn er ihn nicht wirklich nachvollziehen konnte. Warum musste er in seinem Zimmer bleiben? Er würde doch niemanden stören? Bestimmt hielt sein Vater wieder etwas vor ihm geheim. Genau wie damals, als Thom wissen wollte, wo denn seine Mutter sei. Diese Frage brachte immer wieder neue Antworten hervor. Jahrelang ignorierte sein Vater die Neugierde schlichtweg. Erst später räumte er dann kleinlaut ein, dass sie bei den Engeln im Himmel sei. Damals tröstete er ihn mit einer besonderen Geschichte. Er erzählte von dem letzten Gespräch mit Thoms Mutter. Scheinbar hatten sie sich über seinen zukünftigen Namen unterhalten. Sein Vater wollte ihn Tom nennen, der Mutter gefiel Thomas besser. Am Ende einigten sie sich dann auf den Namen Thom.

»Und deswegen ist deine Mutter immer ein Teil von dir. Egal wo sie ist«, hatte sein Vater die Erzählung abgeschlossen.
Thom verstand, doch brachte das seine Mutter auch nicht zurück.

Verdrossen kehrte er der Tür den Rücken und wandte sich dem spärlich eingerichteten Spielzimmer zu. Er wollte sich eigentlich nicht mehr allein beschäftigen, allerdings verstand er sehr wohl, dass sein Vater es nun von ihm erwartete. Summend blickte er sich um, überlegte einige Sekunden und hob schließlich einen bunten Bauklotz vom Boden auf. Sein Vater hatte gesagt, er soll sich beschäftigen, also tat er das jetzt auch. Kurzerhand schob er die klirrenden Bauklötze zu einem Haufen zusammen und fing an, sie aufzutürmen. Die Gebäude, welche er dabei errichtete, ähnelten auf frappierende Weise den Bauwerken der Stadt. Große bunte Schornsteine ragten über der Fläche des Teppichs auf, gesäumt von einer Vielzahl quaderförmiger Blockbauten. Thom war im Wesentlichen sehr zufrieden mit seinem Abbild der Stadt, störte sich aber an der völlig abweichenden Farbe. Hier in seinem Zimmer erstreckte sich eine Landschaft bunter Häuser, während die realen Vorbilder dort draußen selbst im rötlichen Schein der untergehenden Sonne ihr allgegenwärtiges Grau nicht verloren. Thom würde gerne etwas anderes bauen, doch fehlte ihm hierfür die Fantasie. Die anfängliche Freude war verflogen und er trat gegen eines seiner errichteten Gebäude. Es rumpelte heftig und er schreckte zusammen. Hatte wirklich er dieses laute Donnern erzeugt? Unschlüssig hielt er inne und lauschte, ehe ein weiteres Scheppern fern seines Zimmers erklang. Es wird eventuell ein wenig lauter, aber du darfst nicht aus deinem Zimmer, rief sich Thom noch einmal die Worte seines Vaters in den Kopf. Für einen Moment gelang es ihm, die verstörenden Geräusche aus seinem Kopf zu sperren, bevor nun auch das Gewirr streitender Stimmen hinzukam. Eine plötzliche Unruhe erfasste seinen Körper. Er wollte von all dem nichts mitbekommen. Hastig sprang Thom auf und nahm seine Spieluhr in die Hand. Die daran befestigte Kurbel schien sein einziger Ausweg zu sein. Ein mechanisches Rattern erklang und der Raum wurde erfüllt von den Klängen des Instruments. Obwohl sie noch vor kurzer Zeit sein Herz erfüllt hatten, wirkte die Melodie nun farblos und leer. Der Streit jenseits der Tür zwang sich ihm regelrecht auf. Er konnte ihm nicht entrinnen. Zitternd stülpte er sich ein Kissen über den Kopf und verharrte neben seiner zerstörten Stadt aus Bauklötzen. Jegliche Geräusche, die an seine Ohren drangen, waren dumpf und verzerrt. Er hörte Krach, laute Stimmen, etwas ging zu Bruch und all dies wurde untermalt von dem Klang einer Melodie, deren vertrautes Geräusch immer fremder wurde. Thom presste das mit Daunen gefüllte Kissen so fest gegen seinen Kopf, dass die spitzen Federkiele durch den Bezug stachen.

In dieser Position verharrte er eine gefühlte Ewigkeit. Er konnte nicht sagen, wie lange er auf dem Boden gesessen und die Augen zusammengekniffen hatte, bis die Geräusche endlich verklangen. Die darauf folgende Stille war für ihn fast unerträglicher als der Lärm. Eine Weile wagte es Thom nicht, sich aus seiner erstarrten Position zu lösen, bevor ihn eine düstere Vorahnung beschlich. Was, wenn etwas passiert war? Vielleicht sollte er nachsehen? Unsicher richtete er sich auf, während seine Beine immer noch heftig zitterten. Sein Vater hatte gesagt, er soll sein Zimmer nicht verlassen, aber nun beschloss er, diese Aufforderung zu ignorieren. Er fühlte sich quälend einsam und wünschte sich die Nähe seines Vaters. Thom kämpfte sich zurück auf die Beine, umschloss zögerlich den Türgriff mit beiden Händen und drehte ihn. Auch draußen rührte sich nichts.

»Papa?« Seine kindliche Stimme hallte durch den Flur, aber er bekam keine Antwort. Unbehagen stieg in ihm auf und er hetzte voran. Alarmiert spähte Thom durch das Schlüsselloch des Arbeitszimmers und öffnete die Tür. Im Inneren offenbarte sich ihm ein schockierender Anblick. Der Raum war leer, doch wurde er schrecklich verwüstet. Für gewöhnlich herrschte an diesem Ort penible Ordnung, die nun dem Bild zorniger Verwüstung gewichen war. Zahlreiche Akten lagen wild über den Boden verstreut, ein Schrank war samt seines Inhaltes umgestürzt und eine Vielzahl von Dokumenten lag zerrissen auf einem Haufen. Thom starrte ungläubig in das heillose Chaos, nicht in der Lage, den Anblick zu verarbeiten. Schwankenden Schrittes trat er ein, hob einige der Akten auf und ließ sie anschließend wieder ratlos zu Boden fallen. Was war hier geschehen? Der Raum jagte Thom in diesem Zustand eine undefinierbare Angst ein. Ohne noch länger zu warten, flüchtete er aus dem Zimmer und stand nun abermals im menschenleeren Gang. Erst jetzt vernahm er das leise Geräusch plätschernden Wassers. Augenblicklich rannte er in Richtung des Badezimmers, horchte gegen das Holz der Tür und betätigte die Klinke. Noch während die Tür langsam aufschwang, wurde das Geräusch schäumenden Wassers lauter, und ein nasser Schwall berührte Thoms Fuß. Erschrocken zog er seine Socken von dem feuchten Untergrund und schob sich langsam in den Türspalt.

»Papa?«, brabbelte er noch einmal, ohne dass ihm eine vertraute Stimme antwortete. Es offenbarte sich ihm ein ähnlich chaotischer Zustand wie im Arbeitszimmer. Der Boden war flächendeckend von den Scherben eines zersplitterten Spiegels bedeckt. Daneben lagen achtlos hinab geworfene Hygieneartikel herum. Parallel dazu strömte kaltes Leitungswasser über den Rand des Waschbeckens und ergoss sich plätschernd auf dem Boden. Vorsichtig huschte Thom hinein, während seine Augen einer Reihe von schmutzigen Fußabdrücken auf den Fliesen folgten. Hitze stieg in ihm auf. Wo war sein Vater? Was war hier geschehen? Er war von der Situation maßlos überfordert. Etwas stimmte nicht. Sein Blick wanderte vom Boden über den rot verschmierten Duschvorhang. Dann packte ihn das eisige Grauen. In der Badewanne lag der leichenblasse Körper seines Vaters. Die Brause regnete immer noch unablässig auf ihn herab. Seine Augen waren halb geschlossen, die Lippen bewegten sich noch leicht. Ein Messergriff ragte martialisch aus einer blutenden Wunde in der Brust. Schreiend hastete Thom herbei und sprang panisch auf den Rand der Wanne. Die glitschige Kante ließ ihn sofort abrutschen und zurück auf den harten Boden fallen.

»Thom, mein Junge, komm nicht näher«, röchelte sein Vater kraftlos. Jedes Wort verlangte ihm unendliche Kraft ab. »Du musst –« Er stockte hustend. »Lauf, schnell!« Augenblicklich schossen heiße Tränen in Thoms Augen. Die Gedanken begannen in seinem Kopf zu pulsieren und verursachten eine solche Hitze, dass jeglicher Denkprozess dahinschmolz. Trotz der mahnenden Worte kletterte er ein weiteres Mal über den Rand der Wanne, versank bis zu seinen Kniekehlen im blutigen Wasser und presste sich gegen den zitternden Körper seines Vaters.

»Papa, nein«, wimmerte er, während sich seine Tränen mit dem Schleim seiner Atemwege vermischten. »Ich gehe nicht ohne dich!«

»Du musst, sofort!«, flehte sein Vater.

»Ich bleibe bei dir!« Thom schluchzte. Seine kleinen Hände tasteten hilflos über die blutverschmierte Brust, bis hin zu der Stelle, an der das Messer steckte. »Ich ziehe es einfach raus«, rief er aufgelöst. Ein Teil von ihm glaubte, damit tatsächlich etwas bewirken zu können.

»Nein, lass es Thom«, keuchte sein Vater unter zusammengebissenen Zähnen. »Lauf endlich!« Energisch drückte er seinen Sohn von sich fort und Thom rutschte auf der schmierigen Oberfläche aus. Sein Hinterkopf prallte gegen den Rand der Wanne und er versank in dem rötlichen Sud. Einen Sekundenbruchteil später tauchte er bitter weinend wieder auf. Trübe Schlieren liefen sein Gesicht hinab. Mit letzter Anstrengung robbte er sich noch einmal nach vorne, kletterte an seinem Vater hinauf und hielt sich mit voller Kraft an ihm fest.

»Es tut mir so leid, mein Junge«, winselte dieser machtlos. »Bring dich in Sicherheit!« Seine erbleichten Finger streichelten zaghaft Thoms schwarzes Haar. »Ich liebe dich, mein Junge. Für immer.« Ein heftiges Zittern erfasste ihn, ehe sein Körper vollständig erschlaffte. Ungläubig starrte Thom seinen reglosen Vater an und versuchte verzweifelt, dessen Augen wieder zu öffnen.

»Papa? Papa bitte, ich bin es, Thom«, keuchte er, ohne dass die starren Lippen ihm eine Antwort gaben. Ein herzzerreißendes Jaulen drang aus seinem Mund und die Beine knickten unter ihm zusammen. Mit einem hilflosen Stöhnen schlug Thom die kleinen Kinderhände vor sein Gesicht und begann innig zu schluchzen. Er presste seinen Kopf gegen die immer noch warme Schulter des Vaters und fand dort nichts anderes als heftigen Schmerz.

»Papa, komm zurück«, bettelte er hilflos. Das Gefühlschaos, das in ihm tobte, loderte so heiß, dass es seine Seele ausbrannte. Apathisch nahm er seine Beine in die Hand und begann, sich schaukelnd zu wiegen, ehe ein schepperndes Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Jenseits der Tür hatte sich etwas bewegt. Angespannt lauschte Thom auf eine Wiederholung des Geräusches und vernahm ein gedämpftes Husten. Er war nicht allein. In heller Panik rutschte er über den Rand der Wanne, strauchelte ein kurzes Stück voran und stürzte durch die Tür. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Nasse Fußspuren zogen sich über den Boden, während ein beißender Rauch durch den Gang zog. Der Anblick des Qualms brachte Thoms Herz zum Rasen. Plötzlich erklang ein fremdartiges Geräusch in der Wohnung und er lief voller Panik los. Seine kleinen Beine wollten ihm nicht mehr richtig gehorchen. Sie stelzten ungeschickt voran, waren viel zu langsam. Er bog in den letzten Korridor ein und sah bereits die Tür, als ihn etwas zu Fall brachte. Sein Sprunggelenk wurde gepackt, festgehalten von einer fremden Kraft.

Thom stürzte der Länge nach zu Boden. Mit panischen Bewegungen versuchte er sich zu befreien. Dann bemerkte er, dass er sich nur in einigen Telefonkabeln verfangen hatte. Noch während er sich aus seiner misslichen Lage befreite, vernahm er das Geräusch näherkommender Schritte. Egal wie schnell er nun laufen würde, es bestand keine Chance mehr, bis zur rettenden Haustür zu gelangen. Er musste sich verstecken. Hastig rappelte er sich auf und verbarg sich hinter einem Vorhang. In seinem Versteck erfasste ihn sogleich ein ängstliches Zittern. Nur wenige Meter entfernt betrat eine Person den knarzenden Gang und ging diesen langsam entlang. Thoms Herz blieb für einen Moment stehen. Ohne von ihm Notiz zu nehmen, gingen die Schritte an Thom vorüber und ein Gefühl der Erleichterung drang durch seinen Körper. Nur eine Sekunde später wirbelte der Unbekannte herum und riss den Vorhang beiseite. Ein gellender Schrei entwich schlagartig Thoms Kehle und eine Hand drückte seinen kleinen Kiefer zusammen.

»Was machst du denn hier?«, brummte die Gestalt irritiert und zog ihn ein Stück näher an sich heran. Tränen rannen Thoms Wangen hinab. Sein panisches Keuchen wurde durch den festen Griff gedämpft. »Du wolltest dich wohl verstecken, oder?«, sagte der Unbekannte und hauchte ihm seinen strengen Atem ins Gesicht. Völlig entgeistert musterte Thom den furchterregenden Mann und kniff die Augen zusammen. In diesem Moment bohrte sich dessen feistes Gesicht für immer in seinen Verstand. Ein Anblick, der ihn noch viele Jahre später in seinen Alpträumen heimsuchen würde. Hustend fächerte der Mann den umliegenden Rauch beiseite, musterte Thom noch einmal eindringlich und schleuderte ihn grob zurück auf den Boden.

»Das ist jetzt auch egal. Du kommst hier ohnehin nicht mehr raus. Tut mir leid Kleiner, aber so ist das Geschäft.«

Mit einer raschen Bewegung wandte er sich um, presste ein feuchtes Tuch auf den Mund und verschwand durch die Wohnungstür. Nur einen Moment später wurde diese von außen verschlossen. Thom erhob seinen schmerzenden Körper, starrte auf die unpassierbare Tür und wischte sich die Tränen beiseite. Er war eingeschlossen, zusammen mit der Leiche seines Vaters und dem giftigen Qualm, der in schwarzen Wolken durch die Räume glitt. Hustend schleppte Thom seinen schmerzenden Körper voran. Schon bald erkannte er, woher der Rauch kam. Ein tosendes Feuer brannte in der Küche und mittlerweile sogar in dem verwüsteten Arbeitszimmer. Der Geruch von brennendem Holz und Plastik drang in Thoms Nase und er beobachtete schmerzvoll, wie das Feuer sein Zuhause auffraß. Er stolperte ungeschickt über einen am Boden liegenden Kanister, lief durch den rauchigen Flur in sein Kinderzimmer und öffnete eines der Fenster. Seine Stimme war schwach und krächzend, doch versuchte er, aus Leibeskräften zu schreien. Mehrere Stockwerke unter ihm wütete der Straßenverkehr und von der dünnen Stimme des Jungen war nichts zu vernehmen. Noch während er dort stand, breitete sich das Feuer immer weiter aus. Wie ein gefräßiges Raubtier drang es in das Kinderzimmer ein und begann knisternd, alles zu verschlingen. Inzwischen stoben dunkle Schwaden aus dem geöffneten Fenster, und erste Passanten bemerkten das zerstörerische Unheil. Das Feuer hatte Thom von allen Seiten eingekesselt, versengte seine Haare und schmorte auf der Kleidung. Gellende Schreie drangen nun aus dem Fenster und die angesammelten Passanten starrten in blankem Entsetzen auf das knisternde Inferno. Was danach geschah, entzog sich Thoms Gedächtnis. Der beißende Qualm hatte ihm die Sinne geraubt. Wie leblos lag er auf dem Boden, ehe mit einem dumpfen Schlag die Türe eingerammt wurde. Maskierte Feuerwehrleute drangen in den Raum ein, lösten seine verkrampften Finger von dem Fenstersims und trugen ihn hinaus ins Freie. Erst das dröhnende Geräusch einer Sirene ließ ihn langsam aus seiner Ohnmacht erwachen.

Bis heute kann Thom sich an das Gefühl erinnern, als er in dem Krankenwagen langsam zur Besinnung kam. Damals empfand er weder Glück noch Dankbarkeit für seine Rettung. Dort wo einst seine Gefühle waren, prangte nun ein tiefes schwarzes Loch. Alles, was er besessen hatte, war zusammen mit seinem Vater und jeglichen Erinnerungen verbrannt. An diesem Tag und auch an den folgenden wurden keine Überreste seines Vaters gefunden. Es war, als wollte das Schicksal ihm klar machen, dass er ihn unwiederbringlich verloren hatte. Dennoch fand eine zeremonielle Beisetzung statt. Eine schlichte Urne wurde mit Asche gefüllt, die jedoch nicht den Überresten seines Vaters entstammte. Es war lediglich die ordinäre Asche des Gebäudebrandes, vermutlich nicht mehr als die Reste eines verglühten Holzbalkens.

 

Nach langer Zeit der physischen Erholung wurde schließlich darüber entschieden, wo Thom in Zukunft leben sollte. Da er keinerlei Verwandte mehr besaß, fiel die Wahl auf eines der ärmlichen Waisenhäuser der Stadt. Ein Ort voll Trauer und Schmerz, an den der unliebsame Abfall der Gesellschaft abgeladen wurde. Fortan starb Thom jeden Tag ein Stück mehr, bis von seiner einstigen Persönlichkeit nur noch ein abgenagtes Skelett übrig blieb. Der Alptraum seiner Kindheit.